09. August 2009

Drei Minuten vor zwölf: ein tiefer Einschnitt in unseren Törn

Sicher wäre alles ganz anders gekommen. Hätte ich nur nicht den kleinen Blitz übersehen, der im Wetterschaubild erkennbar war. Hätte ich bloß auf dieses geringfügige Zeichen geachtet und nicht nur darauf, aus welcher Richtung der Wind kommt und wie stark er bläst.

Als wir in der Bucht eintreffen, liegen bereits zwei weitere Segler vor Anker. Das werten wir als gutes Zeichen.

Der Südostwind, der uns hierher gebracht hatte, lässt langsam nach, die Wasserfläche wird ruhig. Bisher immer ein gutes Omen für eine ruhige Nacht vor Anker. Inzwischen ist es kurz vor neun. Die beiden anderen Segler haben eben ihre Anker gelichtet und entschwinden ganz langsam auf dem Meer. Der freie Platz wird sofort von einem weiteren Segelschiff gefüllt, dessen Crew ihren Anker etwa einhundert Meter von uns entfernt fallen lässt. Gutes Zeichen? – Vermutlich haben sie umgekehrt unser Ankern als gutes Zeichen für sich gewertet. Kommende Nacht werden sie ihre Entscheidung noch verfluchen. So wie wir die Unsrige.

Blick auf Piran
Blick auf Piran aus der namensgleichen Bucht fotografiert
Die Dämmerung bricht an und es wird kühler, der Himmel zieht sich zu. Aus der Ferne ist ein Grollen zu vernehmen. Auf der Rückseite des nahen Bergkammes kriechen dicke Haufenwolken empor und verharren auf einer niedrigen Höhe. So als spähten sie heimtückisch nach ihren Opfern auf unserem kleinen Fleckchen Schiff. Gewaltige Schwestern dieser gefährlichen Wolken bauen ihre dichten Formationen jetzt auch ringsherum auf. Wir Ankerlieger sind eingeschlossen.

"War denn kein Gewitter gemeldet?" fragt mich Claudia. "Gewitter wissen die vom Wetter doch im Voraus. Das wissen die doch, wenn so etwas kommt!"

Wettertafel
Wettertafel mit Gewitterpfeil
Ich lasse mich den Niedergang hinab und öffne den Laptop. Und: ja – da ist es. Im Browser sichtbar. Unter dem Wolkensymbol lugt ein kleiner gelb-oranger Blitz hervor. Ich hatte ihn nicht beachtet. Niemals wären wir sonst hier vor Anker gegangen! Doch jetzt bricht bereits die Nacht herein. Sollten wir einen Hafen ansteuern?

Aus allen Himmelsrichtungen lässt der Donnergott nun seine Blitze mit bedrohlichem Grollen über das komplette Himmelsrund wandern. Das Inferno nähert sich dem Ankerplatz wie apokalyptische Reiter. Nun sitzen wir in der Falle, wissen nicht, wie wir uns richtig verhalten sollen. Wind kommt auf. Nicht aus Süden, wie erwartet, aus Westen. Noch. Denn die Windrichtungen werden sich jetzt ständig ändern.

Claudia steht starr wie im Schockzustand im Salon von Cleo und schaut aus dem Seitenfenster hinaus. Nur zu deutlich sieht sie das anrollende Unheil.

"Das Gewitter zieht sicher bald vorbei." wiegele ich ab.

"Das ist kein Gewitter. Das ist ein ausgewachsenes Unwetter." Sie sagt das ganz ruhig, ohne eine erkennbare Gefühlsregung. Doch Tränen stehen in ihren Augen. „Das wird keine schöne Nacht.“ Und schon rummst einer der grellen Blitze durch den eben noch schwarzen Himmel über uns. Claudia zuckt zusammen, Cleo bäumt sich auf, dreht sich seitwärts und kommt wieder zurück.

Was macht der Anker. Wird er halten?

Die Ankerposition unseres Schiffes verändert sich, das GPS-Gerät zeigt immer neue Zahlen an. Die Yacht wandert eindeutig nach Südosten ab, in Richtung Strand. Nicht langsam, nein recht schnell. Schneller als ich die Positionen aufschreiben kann. Aufschreiben nicht mehr nötig. Ein Klackern an der Bordwand dringt nach innen.

"Was ist das?" Claudia ist völlig verschreckt.

"Es ist die Schwimmabsperrung vom Campingplatz. Wir sind dagegen getrieben." Bis zum Strand können wir jetzt fast spucken. Die aufgefädelten Kunststoffkugeln der Sperre scharren beängstigend an der Bordwand unseres Seglers. Ich will raus, öffne das Steckschott zum Cockpit.

"Du bleibst hier, du gehst jetzt da nicht raus!" schreit mich Claudia an.

"Ich muss, wir stranden in weniger als einer Minute!"

"Nein, bleib hier! Dann hält uns eben die Schwimmabsperrung!" Claudia ist am Ende mit den Nerven.

"Und wenn nicht, dann haben wir die Leine der Schwimmabsperrung in der Schraube und sind manövrierunfähig!" – Ich schreie lauter als Claudia und stürme ins Cockpit, starte den Motor. Die Schwimmabsperrung ist bereits unter Cleo, das Schiff hängt (noch?) mit dem Kiel daran fest. Doch unser Schiffchen springt mit den Wellen.

Ich schalte in den Vorwärtsgang, Cleo schiebt sich voraus. Kurz lege ich den Leerlauf ein, der Propeller darf sich nicht in der Leine verfangen, der Schwung muss einfach ausreichen, um über die Sperre zu gleiten. Und es klappt! Die Kugeln der Absperrung bleiben achtern zurück.

Nur ein Teilsieg. Denn jetzt kommt der schwierigere Teil: Anker hoch und neu auslegen. Raus aufs Meer zu fahren fällt uns in der Situation nicht ein. Hier bleiben, in jedem Falle: hier bleiben. Hier ist es sicherer. Hier ist auch der Campingplatz, hier sind Menschen in der Nähe.

Ich ziehe und zerre den Anker herauf. Die Kettenglieder fühlen sich in meinen Händen kalt an und auf dem wild auf und abgehenden Vorschiff gleitet mir die Kette aus den Händen. Der Anker rauscht wieder nach unten. Noch einmal von vorne. Nur zu gerne hätte ich jetzt eine elektrische Winsch.

Claudia steht am Steuer: "Es ist der Wind, der das mit Cleo macht! Sie lässt sich nicht steuern!" Claudia verzweifelt beinahe am Ruder. Das Schiff kann die eingeschlagene Richtung nicht halten, wird herumgeschleudert.

"Immer raus, Richtung Meer. Wenigstens versuchen müssen wir es in diese Richtung!" rufe ich und befestige schließlich den gelifteten Anker mit einem Bändsel am Bug.

Wieder am Steuer muss ich Claudia beruhigen. Es sieht nicht gut aus. Wie können wir bei diesem Wind und Welle einen neuen Ankerplatz finden? Und dann den Anker ausbringen. Geht das überhaupt? Ist das seemännisch richtig? Hatte Claudia Recht, hätten wir uns auf das Halten der Schwimmsperre verlassen sollen und auch können? Und wieder lässt der Donner die Luft erbeben.

Das Echolot zeigt eine Tiefe von zwölf Metern an. Ich fahre näher an die Felsen am westlichen Ufer. Acht Meter. Noch näher ran. Claudia hält sich mühevoll an der Bugreling fest und wartet auf mein Anker-fallen Kommando. Jetzt, sechs Meter.

"Rein den Anker!" brülle ich aus Leibeskräften. Claudia lässt den Anker fahren. Die Wellen und der Wind drücken das Schiff sofort achterwärts. Wir spüren, wie der Anker einruckt. Dann sitzt er fest. Zumindest hoffe ich, dass der Ruck genau dies bedeutet.

Claudia hangelt sich mühsam über das herumgeschupste Schiff zurück zu mir ins Cockpit. Ich bin froh, dass sie unversehrt wieder hier ist. Sie steigt sofort runter zum Kartentisch, schreibt die neue GPS-Position auf und prüft sie fortlaufend. Der Wind dreht jetzt. Cleo strebt erneut gegen die Schwimmabsperrung, es geht ganz schnell. Doch plötzlich nähert sie sich der Absperrung nicht weiter. Wir bleiben etwa fünf bis zehn Meter davor stehen. DER ANKER HÄLT. Mir fällt ein ganzer Felsen vom Herzen.

Und der Wind dreht weiter. Cleo’s Heck deutet jetzt auf die Felsen der Ostseite. Doch die sind in der Dunkelheit nicht zu sehen. Nur wenn eine Welle sich an ihnen bricht, höre ich es Klatschen und sehe deren weißen Schaum. Oh Gott, was ist das alles so nah! Der Wind verstärkt sich und ich gebe dem Anker jetzt Unterstützung mit dem Motor. Damit der Anker hält, nicht vom ständigen Zerren und Rucken erneut ausreißt. Mit längst durchnässter Regenjacke, die Claudia mir herausreichte, sitze ich fast eine Stunde bei prasselnden Regen in der Pfütze der Cockpitbank, eine Hand an der Pinne. Mit der anderen halte ich mich an der festgeknoteten Großschot fest.

Sehen kann ich nicht viel in der Dunkelheit, nur die Kämme der Wellen. Die Wellentäler wirken durch den ständigen Regen wie in Nebel eingehüllt. Gelegentlich erhellt ein Blitz die Szenerie und ich freue mich jedes Mal über diese willkommene Beleuchtung. Kann ich so doch die Schwimmabsperrung und somit unsere Position ausmachen. Die Gefährlichkeit von Blitzen kommt mir gar nicht in den Sinn. Das wird sich in nur noch wenigen Minuten blitzartig ändern.

Der andere Ankerlieger verlässt unter Motor die Bucht, vermutlich mit Ziel Italien. Seine Positionslichter leuchteten schon eine ganze Weile, also lief sein Motor ebenfalls. Ich beobachtete seinen Kampf die ganze Zeit. Einen Leidensgenossen zu haben hilft unheimlich. Doch ab sofort sind wir allein hier am Ankerplatz.

Sind wir verrückt, wenn wir jetzt hier bleiben? Was weiß der Andere, was wir nicht wissen? Was kann er, was wir nicht können? Sollten wir auch abhauen? Wohin? Nein, aufs Meer hinaus möchten wir nicht.

Claudia schreibt innen immer noch die GPS-Positionen auf. Kurz vor Mitternacht lässt der Wind nach. Claudia beschwört mich, endlich rein zu kommen. Ja, ich schalte den Motor ab.

23:57 Uhr in der Bucht von Piran
Fast wie im Krimi: die Armbanduhr hat die verhängnisvolle Uhrzeit festgehalten
Claudia ist müde, ihr ist übel, sie möchte sich hinlegen und geht ins Vorschiff zur Koje. Ich führe ihre GPS-Positionsbeobachtungen fort. Das Schiff schwojt, dreht sich ständig um den Anker. Ich schreibe die geänderten Positionen immerzu auf. Auch, um ein Gefühl für den "Schwojenkreis in Zahlen" zu bekommen. Eben will ich meinen vierten Eintrag innerhalb dieser Minute machen. Ich komme nicht mehr dazu.

Durchs Seitenfenster gleißt ein tagheller Schein. Ein gewaltiger Knall fährt durch das Schiff. Cleo erschüttert an ihrem ganzen Leib. Aus der Bugkabine her schreit Claudia:

"Thomas!"

"Ja!" rufe ich zurück. Ist etwas passiert? Was ist passiert?

Erst nach Sekunden bemerke ich, dass ich im Dunkeln stehe. Alle Lichter sind ausgefallen. Die Instrumentenbeleuchtung ist nicht mehr sichtbar. GPS-Position aufschreiben unnötig. Das Gerät hat keinen Strom mehr.

Wir vergewissern uns gegenseitig, dass uns nichts zugestoßen ist. Ein Geruch von verschmortem Kunststoff breitet sich aus. Mit der Taschenlampe schaue ich im Batteriekasten nach. Nichts. Dann in den Motorraum. Es ist kaum etwas zu sehen. Einen Brand haben wir zum Glück nicht an Bord.

"Wir sind manövrierunfähig. Wenn jetzt der Anker ausreißt, dann haben wir nichts mehr zu lachen."

Wir treffen eine Entscheidung. Bei Nachlassen der Blitze werden wir das Schiff verlassen, um am nahegelegenen Campingplatz Schutz zu suchen. Nur weg hier!

Unter Kerzenlicht packen wir unsere nötigsten Sachen zusammen und warten auf eine Gewitterpause.

"Komm, wir setzen jetzt schnell zum den Strand über, bevor die nächste Gewitterwelle hereinbricht." Rasch werfen wir unsere Taschen ins Dingi und klettern flugs selbst hinein. Mit kräftigen Zügen rudere ich uns dem Strand zu. Bei Näherkommen sehen wir im Schein der Campingplatzbeleuchtung zwei Personen auf unsere voraussichtliche Landungsstelle zulaufen. Es sind eine Frau und ein Mann, die unsere Dingileine anbinden.

Wir müssen nicht in den Waschräumen des Campingplatzes übernachten, wie wir es uns vorgenommen hatten. Nein, die beiden Camper Mertha und Henk geben uns eine große Matratze samt Decken und wir dürfen die restliche Nacht in einem Zelt schlafen. Wir sind so dankbar für diese spontane Hilfe.

Für Skipper
 

Bucht von Piran/Kanegra auf Google-Maps  
Ankerplatz vor dem Campingplatz Kanegra (Bucht von Piran): Etwas haben diese großen Buchten gemeinsam: es schaukelt ununterbrochen durch die langen flachen Wellen, die das Meer hereinschickt. Auch deshalb würde ich heute derartige Ankermöglichkeiten nicht für Übernachtungen nutzen. Ähnliches kannten wir schon vom Ankern in der weitläufigen Bucht vor Budva. Unser altertümlicher 777 Häfen und Buchten wies genau an dieser Stelle das Ankersymbol aus, schrieb jedoch keine näheren Worte dazu. Ankern geht, schlafen ungemütlich (auch ohne Blitz).