18. April 2023

Südseegeschichten

Mehrere Südsee-Novellen von Jack London (1876-1916)

Geschichten von verschiedenen Südseeinseln

Jack London ist einer der Väter moderner Aben­teuer­li­teratur. London schreibt gut, seine Be­schrei­bungen sind aus­ge­zeich­net. Doch wie in Ein Sohn der Sonne auch schon sind dies oft keine Ge­schich­ten, in denen wir uns mit einem Protagonisten anfreunden. Sie lassen sich dadurch manchmal ein wenig zäh lesen.

Dennoch bin ich inzwischen mit dieser Erzählweise “ausgesöhnt”, denn bei genauer Be­trachtung, was jeweils als Story dahinter­steckt, bemerkt man die exakte Beo­bach­tungs­gabe des Autors und bekommt gleich­zeitig ein farbiges Bild der Gesell­schaft von damals, von den Zuständen auf den Inseln und die Handlungs­weisen der Menschen dort (egal ob Eingeborne oder Weiße). Einige Geschichten sind viel besser als andere, doch im Großen und Ganzen denke ich, dass jede Geschichte etwas Interessantes zu bieten hat.

Die Geschichten bestechen ganz besonders durch ihre spannende Dar­stellung des menschlichen Kampfes gegen die Natur­gewalten. Dabei werden jeweils Ein­geborene und der weiße Mann gegenüber­gestellt. Beiden bleibt das Verhalten des jeweils anderen rätsel­haft. Doch dabei sind sie sich viel ähnlicher, als sie ahnen.

Denn egal, ob Jack London von Männer­freund­schaften, von Freiheits­kämpfern oder Über­lebenden eines Hurrikans erzählt: neben der Natur spielt das Streben nach Glück der Menschen eine Hauptrolle.

Die beiden Erzählungen Die Perle und Der Walzahn wurden von Jack London 1908 verfasst und 1911 erstmals in dem Sammel­band Südsee­geschichten («South Sea Tales») veröffentlicht.

Die beste Geschichte in dieser Sammlung für mich ist zweifellos Die Perle, weil sie erschütternd und doch menschlich ist und nie in die Richtung geht, die ich erwartet habe.

Die schönste Geschichte ist Otoo der Heide. Und Feuer auf See ist nicht von Gewalt durch Menschen durchzogen. Vor allem ist es die Geschichte, die dann meiner Rede ganz oben zum Trotz unheimlich viel Spannung liefert.

Was den Rest angeht … Nun, schnallt euch an für eine höchst unangenehme Lektüre. In Londons Südseegeschichten finden wir Erzählungen, deren Abenteuer wir nicht erleben möchten. London illustriert die brutale Seite des Kolonialismus, die Inanspruchnahme der Südseeinseln durch Europäer und Amerikaner, die schwer zu ertragen ist. Seine Geschichten haben eine überwältigende Kraft, die den Leser in jede Geschichte eintauchen lässt, mit dem Gefühl, Augenzeuge von Szenen zu sein, die kaum oft skizziert wurden.

Man stellt sich vielleicht eine Frage nach Abschluss fast jeder der Erzählungen: wer ist im Recht, wer im Unrecht. Das ist müßig: ich komme bei genauem Nachdenken zu folgendem Ergebnis: Gewalt und Grausamkeit können niemals Recht sein. Egal von welcher Seite begangen.

Die Südsee­geschichten Jack Londons aus diesem gleichnamigen Buch sind Folgende:

  • Die Perle («The House of Mapuhi»): Die weißen Händler sind sehr interessiert an einer außergewöhnlich schönen und wertvollen Perle, die der Eingeborene Mapuhi auf dem Atoll Hikueru gefunden hat. Aber Mapuhi – vielmehr seine drei Frauen (Mutter, Ehefrau, Tochter) – wollen kein Geld für die Perle, sondern ein Haus. Mit dieser “Währung”, können die Händler nichts anfangen. Während der Verhandlungen um die Perle braut sich ein Hurrikan zusammen, der das Atoll mit unbeschreiblicher Gewalt heimsucht. Die Einwohner der Inseln sind den Gewalten der Natur ausgeliefert: die meisten Insulaner verlieren ihr Leben. Die Perle taucht durch einen großen Zufall anschließend wieder auf …
  • Der Walzahn («The Whale Tooth»): Der Missionar John Starhurst ist so überzeugt von seiner Mission, der Verbreitung des Christentums auf den Fidschi-Inseln, dass er nicht bemerkt, wie wenig aber die Eingeborenen daran interessiert sind, den Kannibalismus und die Vielweiberei für eine zweifelhafte neue Religion aufzugeben. John Starhurst übersieht leider auch, dass es auf den Fidschis Brauch ist, Häuptlingen Walzähne zu schenken …

    Der Walzahn zeigt uns, wie absurd der Versuch ist, in Inselkulturen einzudringen, ohne jemals zu versuchen, sie zu verstehen.

  • Mauki: Eine Schaudergeschichte über den gewalttätigen Händler Max Bunster, der zwei Eingeborenenfrauen in ihre frühen Gräber geprügelt hat, seine Arbeiter unbarmherzig quält und dem es besonderes Vergnügen macht, einen Fäustling aus der raspelartigen Haut eines Rochens anzulegen, um Mauki das Fell vom Rücken zu kratzen.

    Diese Misshandlungen gipfeln darin, dass Bunster selbst von Mauki mit diesem Handschuh gehäutet und anschließend enthauptet wird.

    Jeanne Campbell Reesman bemerkt zu Mauki:

    Obwohl er sich mehr auf die Wildheit der Melanesier konzentriert, beschreibt London auch den moralischen Verfall der Weißen mit ihrer Laxheit, ihrem Alkoholismus und ihrer rassistischen Dummheit.

    Die Handlung spielt auf dem Lord Howe Atoll (=Ontong Java, Karte: Ontong Java)

  • Der blasse Schrecken («Yah! Yah! Yah!»): Der Schotte McAllistair herrscht als einziger Weißer auf dem Oolong Atoll wie ein Tyrann. Niemand liebt ihn. Ja, alle verachten und hassen ihn sogar, besonders die Eingeborenen. Am liebsten würden sie ihn töten. Dennoch tun sie es nicht. Sie beschenken ihn sogar. Warum?
  • Otoo, der Heide («The Heathen»): Von den bisherigen Erzählungen dieses Bandes grenzt sich diese Geschichte deutlich ab: es gibt enorm viel Liebe und Harmonie. Die Handlung ist eher wie ein Märchen, denen man ja auch nachsagt, mitunter grausam zu sein (hier gibt es ein schweres Schiffsunglück mit vielen Toten – die Härten in dieser Erzählung sind jedoch Naturgewalten und gehen nicht vom M enschen aus). Selbst das Ende ist auch grausam und doch gleichzeitig ein Happy-End. Mehr will ich hier nicht vorgreifen. Nur dass Jack London in dieser Geschichte einen Eingeborenen (Otoo) eine jahrelange ergebene Freundschaft mit dem Ich-Erzähler (auch erstmalig in diesem Band) eingehen läßt. Diese Freundschaft ist so positiv geladen, dass dadurch das Lesen dieser Südsee-Novelle sehr “angenehm für meine Seele” wurde.
  • Die furchtbaren Salomoninseln: Oje, hier geht es mit Gemetzel und Grausamkeiten weiter. Otoo war also nur eine vorübergehende “Erscheinung”, wahrscheinlich gedacht als Verschnaufpause für den Leser.

    Die Erzählung zeigt, wie gefährlich und grausam ein Aufenthalt im Unkreis der Salomoninseln sein konnte. London stigmatisiert hier erneut das Eindringen von Weißen in Inselkulturen. Der Leser wird mit Schilderungen über Kannibalismus, Schrumpfköpfe, Aufständen und Piraterie konfrontiert. Krankheiten und Geschwüren sowieso. Jack London stellt Szenen der Geschichten vielleicht deshalb lieber mitunter auch humoristisch dar. Beispielsweise als der Hauptheld der Geschichte, Bertie Arkwright, versehentlich einen ganzen Teller vergiftetes Omelette verspeist hatte. Mr. Harriwell, der Verwalter der Reminge-Plantage tröstet ihn mit folgenden Worten:

    «Tut mir leid, alter Freund, aber das ist eines von den Giften der Eingeborenen, und dagegen kennt man kein Mittel. Versuchen Sie sich zu fassen, … »
    Wir lernen erneut: ein Menschenleben zählt auf diesen Inseln nichts.
    Gar nichts.
    Ganz egal, für welche der Seiten.

  • Der unvermeidliche weiße Mann («The Inevitable White Man»): Die Erzählung beginnt mit der folgenden Erklärung:

    Kein Schwarzer wird einen Weißen verstehen lernen, und kein Weißer einen Schwarzen, solange Schwarz schwarz und Weiß weiß ist.

    Es werden die Heldentaten des für seemännische Arbeiten nutzlosen Matrosen Saxtorph beschrieben, der nichts richtig machen kann, außer einer Sache: er schießt, wie man es nicht für möglich gehalten hätte. Und so lesen wir weiter, wie es diesem Scharfschützen gelingt, während einer Rekrutierungskampagne für angeheuerte Arbeitskräfte auf den Salomoninseln Massen von angreifenden, kopfjagenden Wilden abzuwehren.

    Eigene Anmerkung: In der vorangegangenen Erzählung Die furchtbaren Salomoninseln finden wir einen Abschnitt, der dem Wortlaut und Inhalt nach beinahe noch besser in Der unvermeidliche weiße Mann gepasst hätte:
    Der weiße Mann, der unvermeidlich zu sein wünscht, muß nicht nur die niedrigeren Arten verachten und groß von sich selber denken, er darf auch keine zu bedeutende Einbildungskraft besitzen. Er darf die Gewohnheiten, Instinkte und die Denkweise der Schwarzen, Gelben und Braunen nicht zu gut verstehen; denn das ist nicht die Art, der die weiße Rasse ihren Siegeszug um die Welt verdankt.

    Das passt dann auch zu folgendem Zitat aus Der unvermeidliche weiße Mann:

    «Das Unglück kommt zum größten Teil von der Dummheit der Weißen», sagte Roberts und machte eine Pause, um einen tüchtigen Schluck aus seinem Glase zu nehmen und in kraftvollen Ausdrücken auf den Samoaner Kellner zu fluchen. «Wenn sich der weiße Mann ein bißchen damit abgeben würde, die Denkart des schwarzen Mannes zu verstehen, so würden die meisten Krawalle vermieden werden.»

  • Feuer auf See («The Seed of McCoy»): Hier scheint es um Rassenvermischung zu gehen: McCoys Urgrossvater William McCoy stammt von der Bounty, doch ist er letztlich in seiner Genealogie weitgehend einheimisch.

    Bedeutsam ist darum sicher: in dem Bericht, den McCoy über die Brutalität und den Mord gibt, die auf diese Bounty-Meuterei folgten, zeigt, wie diese weißen Engländer offenbar Gewalt im Blut hatten. Durch Mischehen wurde das gewalttätige weiße Blut McCoys ruhiger, heiliger Größe unterworfen: er ist eine bemerkenswert selbstbeherrschte Figur, der die Besatzung immer wieder beruhigt, indem er spezielle Kenntnisse über die Inseln, die Strömungen und die Winde einsetzt, um das brennende Schiff und seine in Panik geratene Besatzung an Land zu bringen.

    Der Original-Titel dieser Erzählung, The Seed of McCoy (Die Saat von McCoy), trägt diesem Abstammungs-Sachverhalt viel eher Rechnung.

    Achja: oben schrieb ich ja schon: es ist eine echt sehr spannende Geschichte.

Fazit
Weil diese Geschichten doch mitunter grausam anmuten, sollte es zumindest nicht die Startlektüre für neue Jack-London-Leser werden. Kennt man den Autor, seinen Hintergrund und einige “leichtere” Geschichten, dann kann man sich viel eher an diese Südseegeschichten wagen. Denn ich glaube, nur dann kann man die beabsichtigte Aussagen der Erzählungen richtig einordnen, es wird interessant, sogar spannend und: lehrreich. Es ist also nichts, was man liest und danach zur Tagesordnung übergeht: der aufgenommene Inhalt bedarf beim Leser einer nachdenklichen “Nachbearbeitung”.

Andernfalls kann ich vermuten, dass man von Jack Londons Literatur total abgeschreckt wird.

Lesung von «Die Perle» (= «Das Haus von Mapuhi»)
Aus einer Lesereihe in der M. Lengfeld‘schen Buchhandlung Köln.

Lesung (Helge Heynold): Das Haus von Mapuhi (= Die Perle)
 

Exkurs: Jack London’s Farm in Glen Ellen
Glen Ellen ist Jack Londons letzter Landwohnsitz in Kalifornien, wo ihm zusammen mit Charmians Onkel bei einem Bad im Pool die verwegene Idee zu dieser Segelkreuzfahrt kam. Claudia und ich besuchten in unserem Film Entlang der Straßen Kaliforniens diesen weitläufigen Landsitz von Jack und Charmian London. Einen kleinen Videoclip darüber könnt ihr hier ansehen:

Video: Jack London's Landsitz in Glen Ellen