Der Hafen ist voll, keine Boje frei, kein Platz an der Pier. Ankern im Hafenbecken ist unsere einzige Option als sich unerwartet eine Segelyacht aus der Gruppe der pierliegenden Schiffe löst und davonfährt. Die zurückgebliebenen Schiffe rücken sofort auf, die hinterlassene Lücke wird so eng, das ich gerade mal noch Platz für die Breite eines Kajaks entdecken kann. Fast möchte ich aufgeben und doch wieder zum Ankern ins Hafenbecken steuern, als der Marinero die Mooringleine hochzieht, auf den Booten links und rechts der schmalen Lücke die Besitzer ihre Fender ausrichten und mit Bootshaken bewaffnet an ihre Schiffsspitzen laufen. Ja, wenn das keine nette Einladung ist denke ich und steuere die Cleo mit ihrem Bug auf diesen schmalen Wasserpfad zu.
Natürlich wird sie bereits zu Anfang ihres Annäherungsversuchs von den Fendern der neuen Nachbarn ausgebremst, doch mein Gashebel hat noch Reserven, die ich ihm jetzt abfordere. Cleo schiebt sich Stück für Stück in die Enge Lücke und drängt die Schiffsleiber links und rechts auseinander. Claudia wirft einem Helfer die Bugleine zu und schnappt sich die Mooring. Der Helfer mit unserer Bugleine zieht aus Leibeskräften bis Cleo mit ihrer Spitze wieder vor der ihr bereits bekannten Mauer steht.
Nach diesem verschiedene internationale Kräfte bündelnden Anlegemanöver (rechts ein Österreicher, links ein Kroate und dazwischen wir, also Deutsche) haben wir uns ein schönes Essen verdient und spazieren in eines der Hafenrestaurants. Wir essen wirklich sehr lecker, als neben uns eine Gruppe Kroaten ein Akkordeon hervorkramen und mit großartigen Temperament beginnen zu singen. Begeistert schaue ich eine Weile zu, obwohl die Lautstärke des Gesangs nach Ohrschützern schreit. Der Wirt tritt an meinen Tisch und befragt mich und Claudia, was wir denn jetzt trinken möchten.
„Nein, ich möchte zahlen.“ ist meine Antwort.
„Nein, nein, dieser Herr am Nebentisch möchte Sie einladen!“ Ich schaue in das fröhliche mitsingende Gesicht des spendablen Kroaten und Claudia und ich wünschen uns jeweils ein Bier.
Ich bedanke mich bei Branko, so heißt das Geburtstagskind aus Dubrovnik. Branko ist heute extra nach Šipan gekommen, um mit seinen Freunden dieses jährliche Ereignis zu feiern. Er spricht gut deutsch, ist als Kind teilweise in Deutschland aufgewachsen.
Der Akkordeonspieler bemerkt unterdessen, dass wir Deutsche sind und startet ein deutsches Volkslied: „Muss i denn, muss i denn zu dem Städele hinaus …“. Dann kommt noch "Fariah-Fariah hoh", von dem er keinen Text kennt und nun von mir erwartet, dass ich ihn mitsingen kann. Leider muss ich passen. Mein Gott, wir singen doch viel zu selten – ja eher gar nicht! Im Gegensatz dazu können die kroatischen Geburtstagsgäste fast alle Texte der von ihnen angestimmten Lieder mitsingen.
Branko erklärt mir auf deutsch die Hintergründe dieser meist traditionellen Lieder. Das Repertoire ist erstaunlich weit gefächert. Hier kommen Lieder aus der Österreich-Ungarn-Zeit, bosnische Serenaden als auch mazedonische Volksweisen und Zigeunerlieder mit eher lustigen Texten, die uns alle zum Lachen bringen. Der Akkordeonspieler macht seine Sache so leidenschaftlich, rollt die Augen und gibt lauthals seinen gesamten Rachenraum zum Einblick, dass niemand hier ernsthaft einen Caruso herbeisehnen würde.
Die ganze Gegend bekommt die Geburtstagsfeier mit. So laut ist der Gesang. Der Wirt schaut gelegentlich etwas angstoffelt herüber. Sie kennen sich, der Wirt und das Geburtstagskind. Was gut ist, denn so kann die Stimmung ungezügelt weiter auf diesem ausgelassenen und hörbaren Niveau gehalten werden. Die Kroaten scheinen echt gute Stimmbänder zu haben, die halten ganz schön was aus! Sicher gehen sie heute Abend mit schmerzenden Rachen nach Hause. Und mit schmerzenden Ohren. Und sie sind darüber noch glücklich. Sollte mich wundern, wenn es anders wäre.
Wir verabschieden uns nach einigen weiteren Liedern und bedanken uns bei dem wunderbaren Musikanten für diese herrliche Stimmung und bei Branko für die spontane Einladung zum Mitfeiern seines Jahrestages.
Am Abend. Unter dem sternenübersäten Himmel liegen wir auf dem Rücken im Cockpit unseres Schiffes und raten die Sternbilder, erzählen Geschichten, als die das jüngste Familienmitglied unserer kroatischen Nachbarn mit Gitarre zu einem Kinderlied anstimmt. Die etwa Zehnjährige lässt noch ein Weiteres folgen, was uns beiden totalen Spaß macht. Als das Lied ausklingt fragen wir uns, ob wir unser Gefallen durch Klatschen kundtun sollen, was ja hieße, klammheimlich die Nachbarn „belauscht“ zu haben. Wir verzichten darauf und jetzt geht die Gitarre reihum, als Erstes zum Vater.
Liebe Leser, ihr glaubt gar nicht, wie schön solch eine hausgemachte Musik ist. Mit gedämpften Saitenanschlägen und einer beruhigenden Stimme kommen viele wundervolle Melodien zum Vorschein, die unser Herz und die Seele berühren. Die Texte sind in kroatisch, wir verstehen also kein Wort. Doch bei Musik spielt das überhaupt keine Rolle und Claudia findet den für uns so ungewohnten slawischen Klang der Worte jetzt plötzlich vertraut und wunderbar. Die Gitarre wandert nach einer halben Stunde zum Bruder, Schwager – wir wissen es nicht genau. Doch auch der kann den Abend noch mit weiteren Chansons unvergesslich machen. Wir verkriechen uns in unsere Kojen und bei offener „Schlafzimmer“-Luke werden wir träumerisch in den Schlaf gesungen.
Den geschuldeten Beifall bekommen die Nachbarn am nächsten Morgen von uns zugetragen, worüber sie sich herzlich freuen. Die normalste Erwägung wäre jetzt, solange als möglich mit diesem Schiff zu ziehen und jeden Abend am besten den Kaiplatz neben dieser musikalischen Familie zu ergattern.
Diesmal habe ich auch eine Erkenntnis zum vergangenen Tag: Mensch, schau dir mal wieder alte Volksweisen und Stimmungslieder an. Wenigstens mitsingen sollte ich sie schon können. Denn nur böse Menschen haben keine Lieder. Und wer will schon böse sein! Ich nicht!
Beim Singen wird es uns auch kaum passieren, dass wir eine Gefühlsachterbahn von himmelhoch-Delphin-jauchzend bis zum sehr-betrübt-Dreinguck-Anleger erleben wie im nächsten Kapitel.