23. Juni 2025

Insel im Seewind

Nordsee-Erzählung von Wilhelm Schreiner (1889-1943)

Schicksale vor Deich und Düne

Heute wieder ein altes Buch: Druck und Ausgabe war 1942. Doch mich begeistern solche alten Schinken mitunter auf eine besondere Art: beim Lesen drängt sich mir der Eindruck auf, die Leute benutzten früher noch viel mehr verschiedene Worte und Rede­wen­dungen, als wir es heute tun. Also zumindest die Schrift­steller. Vielleicht war die Sprech- und Schreib­weise früher auch einfach nur anders als heute, so dass ich einem falschen Vielfältigkeits-Eindruck unterliege. Wie auch immer – es gefällt mir.

Im Übrigen las ich dieses Buch bei mehreren Tassen Ostfriesentee mit Klüntje und Wülkje. Es war während unseres Ostfriesen-/Nordseeurlaubs im Juni 2025, wodurch das Buch sehr genau in meine gerade vorherrschende Gedankenwelt passte 😃.

Der Inhalt handelt von einem Urlauber auf Langeoog etwa im Jahre 1925 und beschreibt die Insel(n), die Natur, die Unbill der Nordsee und des Wattenmeeres und deren Gezeiten und berichtet von den Menschen, die dennoch hier leb(t)en. Die ganze Geschichte beinhaltet selbst wiederum mehrere Geschichten und Anekdoten über die Entstehung der Ostfriesischen Inseln, über Wind und Wetter, über die Naturgegebenheiten, über die Inselbewohner und frühere Besucher der Inseln und so weiter. Diese Geschichten werden u.a. von den Protagonisten innerhalb der Hauptgeschichte erzählt. Zum Beispiel eine herznahgehende Schilderung, deren Handlung sich 1866 zur Gezeitenwende Ebbe-Flut in der Adventszeit zutrug. Oder – ebenfalls einen Tag vor Weihnachten – die Gechichte der Seenotrettung von dreizehn Personen von dem im Sturm gestrandeten Schoner «Thusnelda» im Jahre 1870. Hierbei erwähnt Schreiner so nebenbei auch gleich die Schwierigkeiten der organisierten Seenotrettung in Nord- und Ostsee im besonderen, die überhaupt erst im Jahre 1865 mit der Gründung der DGzRS so richtig begann. Was in den allermeisten Fällen bis dahin mit vor den Küsten havarierten Schiffen und deren Besatzung geschah – ich sag‘ mal lieber “Schwamm drüber” (bzw. der Interessierte mag sich bitte im Web oder sonstwo darüber kundig machen). Jedenfalls kann man sich die Überschriften dieser Episoden im Inhaltsverzeichnis anschauen, vielleicht gibt das eine Ahnung.

Jede dieser einzelnen Novellen spiegelt Wilhelm Schreiners Meisterschaft der spannenden, mitreißenden Erzählung wider, bildhaft und verständlich zugleich. Man versteht bis in den großen Zeh und bis in die tiefe des Herzens, um was es geht, was die Protagonisten fühlen, erleiden, durchkämpfen und bangen.

Des Autors Erzählkunst riss mich bereits im ersten Buch, gleich auf der ersten Seite, die ich jemals von ihm las, dermaßen mit, dass ich diese erste Seite des Buches in meiner damaligen Rezension gleich ganz und gar in die Rezension eintippte: Rätsel Südsee.

Beispieltext über die Entstehung der Ostfriesischen Inseln:

Eine Zwergdüne wächst.
Ungezählte im Lauf der Zeit. Tausende von ihnen fegt die Flut wieder weg. Hunderte bleiben. Wachsen. Breiten sich aus. Werden zu Kleindünen. Eine neben der anderen.
Möven fangen an zu nisten. Fühlen sich sommersicher vor großen Fluten. Reste von Beutetieren verwittern. Kalkschalen bleiben zurück: wiederum Waschstumsbrücke für weitere Pflanzen.

Der Ich-Erzähler
Der Nordsee-Urlauber, die die Rahmenhandlung des Buches bestreitet, ist Arzt mit Familie und mehreren Kindern in Hamburg. Weiterhin erfahren wir über ihn, dass er Fried Körner, den er auf der Insel traf und kennenlernte, genauestens zuhörte und dessen erzählte Geschichten nachträglich schriftlich festhielt (zum Zwecke der Verwertung als Literatur), Noch weiters wird uns mitgeteilt, dass dieser Ich-Nordsee-Urlauber Bleistiftskizzen anfertigt, ja ihm ginge sogar langsam das Papier aus.

Nun, Wilhelm Schreiner, der Autor des Buches, schrieb solche erzählte Nordseegeschichten im vorliegenden Buch auf. Auf der letzten Seite des Buches (Inhaltsverzeichnis) erfahren wir, dass die Bleistiftskizzen im Buch vom Verfasser stammen, also von Wilhelm Schreiner selbst. Ist dieses ganze Buch dann also ein Tatsachenbericht? Bedeutet dass, dass der Autor des Buches das alles selbst erlebt hat? Und dass es Fried Körner, den alten Abke und all die anderen wirklich gegeben hat? – Ich fand im Web so wenig heraus über Schreiner, den ich nur als Autor von Schriften kannte (meist von erzieherischen Wert für junge Burschen). Bedeutet es also auch, dass der Autor Wilhelm Schreiner eigentlich als Arzt praktizierte?

Pidder Karsten
Noch so eine Romanfigur, die die Theorie eines Tatsachenberichts stützt. Pidder Karsten finden wir in mehreren Büchern Schreiners: in Rätsel Südsee, wo er als Besatzungs­mitglied des Forschungs­schiffes Pinguin im Jahre 1914 eine Rolle spielt. Weiterhin wird Karsten in der Ankündigung des Schreiner-Buches Im Kampf um die Macht erwähnt. In Insel im Seewind wird dann sogar das Sterben Pidder Karstens minutiös dargestellt.

Wiedersehen mit weiteren “alten” Bekannten
An dieser Stelle sei vielleicht auch noch erwähnt, dass Friedel Körner, die wichtigste “Erzählperson” im vorliegenden Buch, ebenfalls in den Büchern Rätsel Südsee/Im Zauber der Südsee vorkommt (gleich schon im ersten Satz von Zauber der Südsee, wie in Projekt Gutenberg nachzulesen ist). Da allerdings noch als Teenager, der auf der Fahrt mit der Pinguin in der Südsee teilnimmt. Dabei lernte er auch Pidder Karsten kennen.

Und noch eines: im letzten Kapitel Schiff im Riff lässt Schreiner einen weiteren vorangegangenen Romanhelden auftreten: Hartmut Stein, der zusammen mit Friedel Körner schon in Rätsel der Südsee/Im Zauber der Südsee weite Teile der Handlung bestritt und dem Steiner bereits ein eigenes Buch widmete (Das Vermächtnis / Der Weg des Hartmut Stein).

Was wir gesichert von Wilhelm Schreiner wissen ist, dass er in seinen Romanen und Schriften gerne tatsächliche Geschehnisse verarbeitet, so wie in Im Kampf um die Welt oder auch in Der Tod von Ypern (wird hier nicht rezensiert, habe ich auch nicht gelesen).

Werte
Kirchgänge spielen immer eine große Rolle bei Schreiner, so auch hier in diesem Buch: man geht zur Kirche und nimmt dies auch ernst. Liest man die Schicksale und die damit verbundene Demut vor dem Meere, die den Menschen am Meer tief innewohnt, dann versteht man auch den Sinn dahinter. Schreiner schreibt ein Buch nicht nur, weil er zufällig einen Stift und einen Zettel Papier in der Ecke fand. Nein, es geht auch immer um etwas: um Ziele, um Ausrichtung, um Kameradschaft, um Familienzusammenhalt – um Werte.

Fazit
Es ist ganz mein Ding, wenn Wissens- und Lernenswertes in eine Erzählung eingebettet werden und sich auf diese Weise mein Wissen auf “spielerische” Weise erweitert.

Ich bin mir allerdings auch im Klaren darüber, dass ein Teil meiner Faszination an diesem Buch der Tatsache geschuldet ist, dass ich es während eines Aufenthaltes in Ostfriesland und mit einem damit verbundenem Inselbesuch auf Norderney las.